Pressemitteilung des Lehrrates des Instituts für orthodoxe Theologie Saint Serge in Paris – 4. November 2022

Zum Thema Selbstverteidigung und Beteiligung der Bürger in einem kriegerischen Konflikt aus christlicher Sicht.

 

In diesen Zeiten des russisch-ukrainischen Krieges, in denen die Wahrheit zerrissen wird, sieht sich der Lehrrat des Instituts für Orthodoxe Theologie Saint-Serge in der Pflicht, eine

theologische Klärung vorzunehmen, um Klarheit in die Gedanken zu bringen.

 

Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, den Menschen zu töten, sondern ihn lebendig zu machen, damit er in Christus Zugang zum ewigen Leben hat, was seine Berufung ist. Krieg, der nicht nur Menschen tötet, sondern zu Gräueltaten führt, indem er nicht nur Soldaten tötet, sondern auch viel Leid über unschuldige Zivilisten bringt, ist eine der schlimmsten Plagen, die die Menschheit kennt. Als solches ist der Krieg niemals gerecht oder heilig.

 

Wenn ein Staat in ein anderes Land einmarschiert, ist dieser Staat ein Aggressor. Ein Land hat das Recht, sich gegen diese Aggression zu verteidigen. Seine Bürger sind dazu sogar verpflichtet. In diesem Zusammenhang ist moralische und spirituelle Richtungsweisung legitim, wenn sie die Bürger dazu drängt, ihre Pflicht zur Verteidigung ihres Landes zu erfüllen. Dies endet jedoch dann, wenn die moralische und spirituelle Obrigkeit anfängt zu erklären, dass die Verteidigung des eigenen Landes ein Opfer ist, das für diejenigen, die ihr Leben dabei geben, bedeutet, dass sie durch dieses Opfer von all ihren Sünden freigesprochen werden. Die Orthodoxie hatte nie die mittelalterliche Doktrin der vollständigen oder teilweisen "Absolution", die von der lateinischen Kirche Christen gewährt wurde, die sich bereit erklärten, in die Kreuzzüge zu ziehen und zu kämpfen.

 

Jesus Christus gab sein Leben für die Errettung der Welt. So lobenswert das Geschenk auch ist, dass ein Soldat sein Leben gibt, um sein Land zu verteidigen; es ist nicht Teil der Rettung der Welt. Dieser Soldat ist nicht Christus und die Verteidigung der irdischen Heimat ist nicht die Rettung der Welt. Wir können hier nicht von der Absolution der Sünden sprechen: nur der gestorbene und auferstandene Christus nimmt die Sünden der Welt fort. Genau wie der Krieg ist der Götzendienst an der Nation bzw. der Nationalismus eine Geißel, die blind macht, da sie die Religion auf die Nation reduziert, und damit den Nationalismus zur Religion erhebt. Christus kam, um uns daran zu erinnern, dass der Mensch nicht von der Nation kommt, sondern von Gott.

 

Jedes Jahr gedenken die Nationen der Welt derer, die ihr Leben für die Verteidigung ihres Landes gaben. Selbst wenn es heroisch ist, ist diese Gabe nicht heilig, und es gibt keinen Grund zu sagen, dass diejenigen, die dies getan haben, von ihren Sünden losgesprochen werden. Es ist Gott, der Sünden erlässt, und keine Heldentat, wie bemerkenswert diese auch sein mag.

 

Für den Lehrrat ist es theologisch unzulässig anzunehmen, dass jemand, der treu zu seinen patriotischen Verpflichtungen in Ausübung seiner militärischen Pflichten auf dem Schlachtfeld stirbt, eine Tat vollbringen würde, die einem Opfer gleichkommt, das alle seine Sünden reinwaschen würde, einschließlich der mögliche Mord an seinen Feinden. Die Absolution von Sünden hängt nicht von einem mechanischen Ausgleich zwischen Sünden und „verdienstvollen Taten“ ab; es ist ein Mysterium, das nur der Barmherzigkeit des Schöpfergottes gehört.

 

Der Lehrrat erinnert daran, dass im 10. Jahrhundert der Patriarch und Heilige Polyeuctus, geistlicher Vater der den Aposteln gleichgestellten Heiligen Olga, den Antrag des Kaisers Nicephorus Phocas ablehnte, der christliche Soldaten, die auf dem Schlachtfeld starben, zu Märtyrern erklären wollte. Selbst in einem Zustand der Selbstverteidigung oder im Krieg bleibt jeder Mord eine Sünde, wie der 13. Kanon des heiligen Basilius bezeugt (diejenigen, die im Krieg getötet haben, „haben keine sauberen Hände“). Aus diesem Grund zogen es im 11. Jahrhundert die beiden heiligen Fürsten Boris und Gleb, Schutzheilige sowohl der russischen als auch der ukrainischen Kirche, vor, nach dem Beispiel Christi zu sterben, anstatt Blut zu vergießen, um ihren Staat gegen die Raubgier ihres Vetters Swjatopolk zu verteidigen.

 

Der Lehrrat des Saint-Serge-Instituts hat nicht die Absicht, eine politische Bewertung des schrecklichen Krieges vorzunehmen, der gerade im Gange ist – das ist nicht seine Berufung –, aber er hält es für seine Pflicht, den Begriff der Selbstverteidigung, bzw. das Engagement der Bürger in einem Krieg zurückzustellen an seinen rechtmäßigen Platz in der orthodoxen Perspektive: Es ist Aufgabe der Einwohner eines Landes Gott zu dienen und nicht die Gottes, den Einwohnern zu dienen.

 

Pressemitteilung angenommen nach Abstimmung im Lehrrat am 4. November 2022. Teilnehmer an der Abstimmung: 19, Ja-Stimmen: 15, Nein-Stimmen: keine, Enthaltungen: 4, Nicht anwesend: 1