Kurze Geschichte des Erzbistums der 
orthodoxen Gemeinden russischer Tradition 
in Westeuropa

von Diakon Thomas Zmija

 

Unser Erzbistum ist aus den Gemeindegründungen jener russischen orthodoxen Emigranten hervorgegangen, die nach der Oktoberrevolution nach Westeuropa, vor allem nach Frankreich, geflohen waren.

 

Denn sofort nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki begann ein massiver Vernichtungsfeldzug gegen die Kirche. Unzählige Bischöfe, Priester, Mönche und Nonnen sowie unzählige einfache Gläubige erlitten Gefangenschaft, Folter und Tod um ihres orthodoxen Glaubens willen. Diese Verfolgungswellen dauerten in unterschiedlicher Heftigkeit bis zur Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 an. Das Ziel dieser Politik bestand in der Vernichtung der Kirche als Institution und der Ausrottung des religiösen Bewusstseins im russischen Volk.

 

Den revolutionären Wirren in Russland folgte vom Frühjahr 1918 bis zum Jahr 1920 der russische Bürgerkrieg. Die Auseinandersetzungen wurden besonders erbittert und brutal, vor allem auch gegen die Zivilbevölkerung, geführt. Insgesamt verloren über acht Millionen Menschen ihr Leben. In dieser Zeit, als weite Gebiete Russlands, vor allem im Süden des ehemaligen Zarenreiches der kommunistischen Kontrolle entglitten, wurde der Kontakt der südrussischen Diözesen zur Kirchenleitung in Moskau unterbrochen. Deshalb forderte Patriarch Tichon in einem Dekret vom November 1920 jene Teile der russischen Kirche, die wegen der politischen Situation ohne Verbindung zur patriarchalen Leitung in Moskau standen, dazu auf, eigene oberste kirchliche Verwaltungseinheiten zu bilden. Als die antikommunistischen Kräfte im Bürgerkrieg letztendlich unterlagen, stieg die Zahl der Flüchtlinge aus den, von der zurückweichenden weißen Armee geräumten, südrussische Gouvernements in kürzester Zeit rapide an. Im November 1920 wurde auch die südrussische oberste Kirchenverwaltung zusammen mit den Resten der geschlagenen weißen Armee nach Konstantinopel evakuiert. Mit den Strömen der Emigranten gelangten viele Bischöfe, Priester, Mönche und Nonnen in fast alle Länder Westeuropas. Unter ihrer Führung begannen die russischen Emigranten ihr kirchliches Leben in der Diaspora zu organisieren.

 

Aus der ehemaligen südrussischen obersten Kirchenverwaltung entstand eine gemeinsame Synode aller Auslandsbischöfe, die auf Einladung der serbischen orthodoxen Kirche ihren Verwaltungssitz in Sremski Karlovac nahm. Im Jahre 1921 hatten Patriarch Tichon und Metropolit Wenjamin, dem als Metropoliten von Petrograd traditionell alle Auslandsgemeinden der russischen Kirche unterstanden, Metropolit Evlogij (Gregorievsky) mit der Verwaltung aller russischen Kirchengemeinden in Westeuropa beauftragt. Er nahm seinen Sitz in Paris. Seine Bischofskirche wurde die Kathedrale des heiligen Alexander von der Newa in der Rue Daru. Rund zwei Millionen Menschen waren in den Wirren der Revolution und des folgenden Bürgerkrieges aus Russland ins Ausland geflohen. Viele dieser Emigranten, ließen sich jetzt in Frankreich, vor allem im Großraum von Paris, nieder. Sie begründeten dort einen eigenen, russischen Mikrokosmos. Viele von ihnen waren Intellektuelle oder entstammten der alten Oberschicht des vorrevolutionären Russlands. Zwar mussten sie oft ein Leben in bitterer Armut führen, begründeten aber in Frankreich ein reiches intellektuelles und kulturelles Leben. Da die meisten Emigranten schon in Russland über gute französische Sprachkenntnisse verfügt hatten, fiel ihnen auch die Vernetzung mit der französischen Mehrheitsgesellschaft nicht schwer.

 

Patriarch Tichon

 

Als sich nun in der Sowjetunion der antireligiöse Terror der kommunistischen Regierung immermehr steigerte und eine Vielzahl von Geistlichen, aber auch ganz einfache Gläubige, dadurch in äußerste Bedrängnis für Freiheit, Leib oder Leben gerieten, suchte Patriarch Tichon verzweifelt nach Wegen, um das Überleben seiner Kirche zu sichern. Gerade in jener Zeit begann sich die Synode der Auslandsbischöfe unter Metropolit Antonij (Chrapowitzky) eindeutig auf eine monarchistische Linie festzulegen. Auf einer Synode im Jahre 1922 votierte man mehrheitlich für die Wiederherstellung des russischen Zarentums unter dem Großfürsten Kirill Wladimirowitsch als Zar Kirill I. In dieser Situation löste Pariarch Tichon, der im gleichen Jahr inhaftiert worden war und nur über einen Patriarchalverweser und deren Stellvertreter die Verwaltung der Kirche aufrecht erhalten konnte, den Synod der Auslandsbischöfe auf. Die Auslandsbischöfe aber beurteilten die damalige Situation in Russland dahingehend, dass eine reguläre kirchliche Gewalt nicht mehr existiere, die so frei handeln könne, dass man ihr Gehorsam schulde. So betrachteten sie die Auflösungsverfügung durch den inhaftierten Patriarchen als null und nichtig. Von da an begann sich die russische Auslandskirche, auch als „Karlovitzer Jurisdiktion“ bezeichnet, als verbliebener freier Teil der russischen Kirche zu betrachten und ihre Angelegenheiten autonom von der Mutterkirche in Russland zu regeln.

 

Metropolit Evlogij distanzierte sich zunächst nicht öffentlich von den übrigen russischen Bischöfen im Ausland, hielt aber eindeutig an der Rechtmäßigkeit der Kirchenleitung durch den Patriarchen und seinen Patriarchalverweser bzw. dessen Stellvertreter in Moskau fest. Insbesondere aber bestritt er nach der erfolgten Auflösungsverfügung durch den Patriarchen Tichon dem Auslandssynod in Karlovac das Recht, die kirchlichen Strukturen in der Emigration ohne eine Zustimmung der russischen Mutterkirche zu verändern. So zerbrach die Einheit der kirchlichen Emigration schon im Jahre 1926, als der Auslandssynod versuchte, aus der westeuropäischen Diözese eine eigene Diözese für Deutschland heraus zu lösen. Etwa 75 Gemeinden, die vor allem in Frankreich, aber auch in vielen, wichtigen europäischen Städten lagen (so auch die Gemeinden in Bad Ems und Dresden), hielten dem Metropoliten Evlogij die Treue. Erst als der Nationalsozialismus in Deutschland zur herrschenden politischen Kraft geworden war, waren ab dem Jahre 1938 alle russischen Kirchengemeinden in Deutschland gezwungen, sich dem Synod der russischen Auslandskirche zu unterstellen. Die bislang Metropolit Evlogij unterstehenden Geistlichen mussten entweder zur Auslandskirche überwechseln oder ihre Pfarreien aufgeben.

Der heilige Sergej von Radonesch. Fresco- Medallion am Institut St. Serge in Paris

 

Schon im Jahre 1925 war in Paris das theologischen Instituts des heiligen Sergius von Radonesch gegründet worden, an dem eine Reihe bedeutender, orthodoxer Religionsphilosophen, Theologen und Kirchenhistoriker lehrten. Hier fand eine erste, fruchtbare Begegnung zwischen orthodoxer und abendländischer Theologie statt. Ebenso wurden und werden hier neue Generationen von Kandidaten für das priesterliche Amt ausgebildet und zu einer besonderen Sensibilität für die neuartigen Lebensbedingungen ihrer orthodoxer Gemeinden in einer abendländisch- westkirchlichen Umgebung hingeführt. Auch der Anteil, den das Institut an der Wiederbelebung der patristisch zentrierten Theologie genommen hat, wird ein bleibendes Erbe von „Saint Serge“ an die Weltorthodoxie sein. Gerade die heutige amerikanische Orthodoxie und ihr Saint- Vladimirs- Seminary in Crestwood verdanken vieles diesen ersten Anfängen einer, zwar im Westen beheimateten, doch genuin orthodoxen Theologie.

 

In Nordamerika bestand die Mehrheit der Gemeinden nicht aus Emigranten, sondern aus Einwanderern,die vor Ausbruch des ersten Weltkrieges in die USA eingewandert waren. Diese begriffen sich nicht als zeitweilig außerhalb Russlands lebende Emigranten, sondern setzten ihre Hoffnung auf eine gelungene Integration in die sie umgebende, amerikanische Gesellschaft. Insofern identifizierten sich nur wenige Gläubige der nordamerikanischen Metropolie mit dem nationalen, exilrussischen und stark monarchistischen gefärbten Kurs der Auslandskirche, zumal viele Gläubige aus den Kreisen von zur Orthodoxie zurückgekehrter Unierter westukrainischer und russinischer Herkunft stammten. 1926 bekannte sich die Mehrheit der russischen Kirchengemeinden in Nordamerika unter Metropolit Platon (Roschdestvensky) zum langfristigen Ziel der Errichtung einer nationalen orthodoxen Kirche in Nordamerika. Für die russische Auslandskirche war dies nicht akzeptabel und es kam zum Bruch.

 

In den letzten Lebensjahren von Patriarchen Tichon und der folgenden Zeit durchlitt die russische Kirche einen Golgotha sich in kürzester Zeit ablösender Verfolgungswellen. Nahezu der gesamte Episkopat, unzählige Priester, Mönche und Nonnen, sowie unzählige Gläubige waren erschossen worden oder fanden sich, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, im sowjetischen Gulag wieder. In dieser Situation versuchte Metropolit Sergej, der als Stellvertreter des „Locum tenens“ die Patriarchalkanzlei leitete, im Jahr 1928 mit einer Loyalitätserklärung gegenüber dem Sowjetstaat und seiner Führung, wenn nicht die Verfolgungen zu beenden, so doch zumindest deren Heftigkeit abzumildern. Auch von den russischen Hierarchen im Exil verlangte Metropolit Sergej die Abgabe solche Loyalitätserklärungen. Was aber dem Binnenkontext der besonders prekären Situation einer Kirche, die im sowjetrussischen Herrschaftsbereich zu überleben sucht, noch geschuldet sein mag, war aber im freiheitlichen Umfeld des Westens völlig undenkbar. Zumal erwies es sich als besonders problematisch, dass mit der Abgabe einer solchen Loyalitätserklärung nach sowjetstaatlicher Auffassung zugleich die öffentliche Leugnung der Kirchenverfolgungen und die Postulierung völliger Religionsfreiheit in der Sowjetunion vor der meist schlecht informierten, westlichen Öffentlichkeit verbunden war.

 

Um die kirchliche Einheit bewahren zu können, war Metropolit Evlogij zwar bereit, trotz der eindeutig antisowjetischen Haltung seiner Gemeinden, die eingeforderte Loyalitätserklärung abzugeben. Zu einer Beschönigung oder offenen Leugnung der sowjetischen Christenverfolgungen fand er sich jedoch nicht bereit. Als Metropolit Evlogij im Jahre 1930 an einem Fürbittgebet für die verfolgten Christen in der Sowjetunion in London teilnahm, wurde er umgehend durch den Metropoliten Sergej in den Ruhestand versetzt. Seine Kirchengemeinden standen aber weiterhin zu ihm. Metropolit Evlogij bat schließlich den Ökumenischen Patriarchen Photios II von Konstantinopel, das russische Bistum in Westeuropa unter den Schutz seines Omophorions zu nehmen. Im Jahre 1931 wurde das Bistum dann als eigenes Erzbistum für die russisch- orthodoxen Gemeinden in Westeuropa unter die Jurisdiktion des Ökumenischen Patriarchen aufgenommen.

 

Metropolit Evlogius mit Erzbischof Vladimir von Nizza (rechts) und Bischof Sergej von Prag (links)

 

Seit dieser Zeit ist das Erzbistum auf über 120 Pfarrgemeinden angewachsen, von denen mehr als 40 in Frankreich gelegen sind. In den Pfarrgemeinden versehen heute 112 Priester ihren Dienst. Sie betreuen annähernd 100 000 Gläubige mit einem sehr unterschiedlichen nationalen Hintergrund. Insofern verbindet heute zwar alle Gemeinden des Erzbistums die Liebe zur russischen Tradition, in der sich ihr gemeinsamer orthodoxer Glaube ausdrückt. Aber der Zusammenhang zur russischen Nationalität verliert in dem Maße zunehmend an Bedeutung, wie sich Nachkommen der einstigen Emigranten in ihren neuen Heimatländern verwurzeln. So findet bis heute bei der Feier der Göttlichen Liturgie auch das gewohnte Altkirchenslavisch seine Verwendung, aber in einem stetig wachsenden Maße wird dieses in den Gemeinden durch die Verwendung der modernen, westeuropäischen und skandinavischen Sprachen abgelöst. Neben den Nachkommen der russischen Emigranten finden in den Gemeinden des Erzbistums in einem zunehmenden Maß auch jene Menschen ihre neue Heimat, die im orthodoxen Glauben den ihnen gemäßen Zugang zu Gott gefunden haben.  Auch wenn das Erzbistum heute seinen Diözesanschwerpunkt in Frankreich besitzt, befinden sich seine Gemeinden in ganz Westeuropa. In Deutschland ist es mit Pfarrgemeinden in Stuttgart, Balingen, Albstadt und Karlsruhe vertreten.

 

Metropolit Evlogij